„Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen. Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muss fallengelassen werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so gut funktionierende und wohlabgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind.“

John Rawls: A Theory of Justice (1971)

 

Bei Rawls entsteht Gerechtigkeit aus einem Hang der Menschen zur Fairness. Diese Auffassung hält der Autor für äußerst wirklichkeitsfremd.

Volker Wasmuth

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Wesentliche Modellannahmen und Erläuterungen

 

  1. Das Individuum
  2.  
    Es wird unterstellt, dass jede einzelne Person über ein eigenes Präferenzsystem verfügt, d. h. sie hat eine bestimmte Skala, auf der sie Lust- und Unlustgefühle mit bestimmten Gütern, Dienstleistungen und Informationen verbindet. Diese Annahme lässt sich mit den Ergebnissen der heutigen Neurowissenschaften vereinbaren (siehe zum Beispiel: Gerhard Roth, Nicole Strüber; Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart 2014).

    In der herkömmlichen ökonomischen Theorie mussten individuelle Präferenzsysteme bestimmten mathematischen Bedingungen entsprechen. Das war notwendig um Gleichgewichtswerte zu berechnen. Die Prüfung dieser Bedingungen ist bei der vorliegenden Analyse zwar nicht überflüssig, sie tritt aber in den Hintergrund. Es werden keine Gleichgewichtswerte berechnet (, deren Kenntnis meistens zu wenig Erkenntnis führte). Es geht darum, einen Mechanismus aufzuzeigen, der unser Leben in der Gesellschaft beschreibt, und nicht darum, einen konkreten Multiplikator zu ermitteln.

    Im Gegensatz zu üblichen ökonomischen Modellen sind in dem hier genutzten Denkmodell die einzelnen Personen nicht allwissend, aber sie besitzen wie im normalen Leben die Eigenschaft, Informationen zu gewinnen – zu lernen – und Informationen zu verlieren – also zu vergessen.

    Die Abhängigkeit der Präferenzen von sich ständig ändernden Informationen führt dazu, dass sich die Vorlieben und Abneigungen des Individuums ständig ändern. Das macht seine Entscheidungsfindung schwer und verringert seinen Nutzen. Das Individuum erzielt also einen „Lustgewinn“, wenn es das Treffen von Entscheidungen vereinfacht, selbst wenn dadurch Fehlentscheidungen entstehen können. Es ist somit auch im Sinne der Maximierung des Nutzens, wenn Individuen auf bewährte Entscheidungsmuster zugreifen. Dazu zählen Überzeugungen, Regeln, Normen, Moral- und Sittengesetze und vieles mehr (, die aber selbst Teil des Maximierungsprozesses darstellen. Siehe Punkt 4.).

     

  3. Das gesellschaftliche Umfeld
  4.  
    So wie sich das beschriebene Individuum verhält, verhalten sich auch alle anderen Individuen. Wegen der unterschiedlichen Präferenzen und sich ständig ändernder Informationen über andere Individuen und die sonstige Umwelt gibt es sich immer wieder neu generierende Anpassungsprozesse. Ein Gleichgewicht – das heißt ein Stillstand der Anpassungsprozesse – ist nur sehr theoretisch denkbar.

    Weil nicht nur nicht jeder alles machen kann, sondern auch nicht will, treten gesellschaftliche Spezialisierungen ein. Das gilt im familiären Bereich, in der Sippe, im lokalen und kommunalen Umfeld und auf höherer Ebene. Man vertraut sich für bestimmte Aufgaben anderen Menschen an, weil eine solche Haltung das Leben vereinfacht, also den Nutzen erhöht.

     

  5. Die natürliche Umgebung
  6.  
    Alle menschlichen Handlungen vollziehen sich in einer Umgebung aus Natur und Technik. Beispielsweise kann sowohl das Wetter die Nutzenentscheidungen jeder einzelnen Person beeinflussen, wie die Fahrzeiten eines Stadtbusses. Und das Klima im Süden Europas hat beispielsweise zu anderen Verhaltensweisen aufgrund des Nutzenkalküls geführt als im Norden.

     

  7. Das Prinzip des Gebens und Nehmens
  8.  
    Die Situation jeder Person lässt sich durch Kommunikation – also Gedankenaustausch – mit anderen Menschen verbessern. Ebenso dadurch, dass mit anderen Menschen Güter oder Dienstleistungen getauscht werden – oder eben mit Geld, durch das Güter und Dienstleistungen leichter handelbar werden. (Geld ist auch ein Produkt des Nutzenmaximierungsprozesses.) Insoweit stimmen auch die herkömmlichen mikroökonomischen Modellbetrachtungen. Nur scheint es, als höre das Denken der Wirtschaftswissenschaftler bei Gütern und Dienstleistungen auf. Doch die in einer Gesellschaft entstehenden – oder auch wieder vergehenden – Werturteile, Gebräuche, Übereinkünfte, Ansichten etc. sind ebenfalls Resultate des Gebens und Nehmens der Individuen. Manche dieser Normen haben sich für viele Menschen bewährt und existieren seit langer Zeit, andere sind eine Art Modeerscheinung und lösen sich wieder auf. (Jeder Mode liegt übrigens – zumindest für einen Teil der Gesellschaft – ein sozialer Konsens zugrunde, der auf einem üppigen Konglomerat von Gedanken-, Güter- und Dienstleistungsaustausch beruht.)

    Jeder Mensch hat eine Vorstellung von Gerechtigkeit und erst recht von Wahrheit. Aber erst ein komplexer Begriff des Gebens und Nehmens führt dazu, dass aus individuell gefühlter Gerechtigkeit soziale Gerechtigkeit entsteht – also eine Gerechtigkeit, die von großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert wird. Nicht anders verhält es sich mit der Wahrheit. Wir haben beispielsweise ein Geschehen beobachtet und sind von der Wahrheit unserer Wahrnehmung – der Begriff ist bezeichnend – überzeugt. Was gesellschaftlich für wahr gehalten wird, muss einen gesellschaftlich anerkannten Weg der Wahrheitsfindung – Beschreibung des beobachteten Phänomens, Zeugenaussagen, wissenschaftliche Prüfungen – durchlaufen. Dieser Weg zur gesellschaftlich akzeptierten Wahrheit ist ebenfalls durch einen sehr komplexen Weg des Gebens und Nehmens entstanden. Die Wahrheit, von der das Individuum überzeugt ist, muss nicht immer mit der gesellschaftlich tolerierten zusammenfallen.

    Mancher wird sich kaum vorstellen können, dass beispielsweise ethische Werte durch „simple“ Tauschprozesse – Güter gegen Ethik – in einer Gesellschaft entstehen können. Aber es sind keine simplen Prozesse und es handelt sich auch nicht um simple Individuen denen wir die Entwicklung der Gesellschaft des Homo Sapiens zu verdanken haben. Der Philosoph John Rawls hat (hatte) zum Beispiel eine gänzlich andere Auffassung vom Entstehen der Bedeutung von Gerechtigkeit und Wahrheit als der Autor. Bei Rawls entsteht Gerechtigkeit aus einem Hang der Menschen zur Fairness. Diese Auffassung hält der Autor für äußerst wirklichkeitsfremd. Auch der gesellschaftlich akzeptierte Begriff der „Gerechtigkeit“ ist durch Tausch entstanden – Güter gegen Gerechtigkeit – und darin manifestiert sich auch Herrschaft, selbst wenn der Einzelne diese als ungerecht empfinden mag. Aber solange es menschliche Gesellschaften gibt, hat es nie ein herrschaftsfreies Zusammenleben gegeben. Eine Änderung der Herrschaftsverhältnisse übrigens kann zwar die Bedeutung des Begriffs „Gerechtigkeit“ ändern, es bleibt aber trotzdem dabei, dass sich in ihm auch die Herrschaftsverhältnisse niederschlagen.

    Das Prinzip des Gebens und Nehmens ist vermutlich ein nicht nur im menschlichen Genom festgelegtes Verhalten. Es kann unabhängig von der Staats- und Regierungsform nicht außer Kraft gesetzt werden. Allerdings bleibt im Regierungshandeln modern verwalteter Staaten dieses Prinzip oft unbeachtet. Ohne konkrete Gegenleistung werden dort beispielsweise staatliche Subventions- oder Transferleistungen gewährt. Die dadurch ausgelösten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anpassungsprozesse führen dann nicht selten zu gesellschaftlich unerwünschten Ergebnissen.

     

  9. Die Begrenztheit der Ressourcen
  10.  
    Wir leben in einer Welt mit Grenzen. Diese Aussage gilt im umfassenden Sinne. Unbegrenzt gibt es praktisch nichts auf unserem Planeten. Selbst die Bäume wachsen nicht in den Himmel. In früheren Zeit nahm man an, dass zumindest Licht und Luft unbegrenzt zur Verfügung stünden, aber wer heute gezwungen ist, in einigen Mega-Städten oder –Industriegebieten zu leben, wird anderer Ansicht sein.

    In unserem abstrakten Denkmodell werden die Marktgleichgewichts- und Produktionsfunktionen dem Anspruch der Begrenztheit der Ressourcen gerecht.

 
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