Die Märchenerzähler

 

Die Literatur wird bevölkert von Märchenerzählern. Weltweit.

Mancher Literat, besonders wenn er Rang und Namen hat, mag diese Einschätzung für despektierlich halten. Märchentexte beschreiben meistens sehr sonderbare Geschehnisse, die sogar von Kindern schnell als Phantasieprodukte durchschaut werden. Es sind Vorkommnisse, die am kindlichen Realitätstest scheitern. Sie verzaubern, sind auch spannend, hinterlassen dennoch bei Hörer oder Leser den Eindruck, sie seien frei erfunden, und werden nicht ganz ernst genommen.

Die Werke von Schriftstellern – besonders, die der Bedeutenden – wollen ernst genommen werden. Zumindest ist das der Anspruch ihrer Schöpfer – nicht immer ihrer Kritiker. Es soll eine Botschaft übermittelt werden. Das geschieht zwar in jedem Märchen auch, aber dort doch recht einfach, oft platt und banal, zuweilen sogar vulgär. Die Vertreter bedeutender Literatur wollen bestimmtes, ungewöhnliches Verhalten und besondere Sachverhalte herausheben und beschreiben. Und damit bewerten sie auch. Sie wollen verdeutlichen, klären, erklären und aufklären, um auf diese Weise nicht nur das Interesse des Lesers zu erwerben, sondern ihn möglichst auch zu beeinflussen. Das ist nicht so offensichtlich wie die Märchenhandlung, sondern wesentlich differenzierter, unmerklicher. Mancher Autor mag zwar eine gezielte Einflussnahme bestreiten, aber das ist nicht ernst zu nehmen: Selbst wenn Geschriebenes objektiv wahr wäre, ginge von ihm Einfluss aus. Und es steckt auch immer ein Ziel dahinter, sogar auch dann, wenn diese Absicht dem Verfasser selbst nicht bewusst wird. Sonst hätte man die Ideen schließlich nicht zu Papier – oder in die elektronischen Medien – bringen müssen. Welche Ziele das sind? Letztlich immer eine Verhaltensänderung bei den Lesern – oder Hörern. Und es besteht latent auch immer die Hoffnung, dass der Leser Multiplikator ist. Er soll die Ideen aufnehmen und möglichst auf andere übertragen. Vordergründig soll der Leser allerdings einfach zu neuen Einsichten gelangen oder alte bestätigt können. Das sind keine märchenhaften Absichten, das sind subjektive Interessen. Wie kann man da trotzdem ernsthaft der Meinung sein, dass hauptsächlich Märchenerzähler das Volk der Literaten bilde?

Zugegeben, die Ausgangshypothese mag etwas überspitzt sein, aber so weit hergeholt ist der Vergleich dennoch nicht. Nehmen wir den Roman als Beispiel heraus: Wie groß ist der Unterschied zwischen Roman und Märchen? Riesig mag man meinen. Der Roman ist lang, das Märchen kurz. Schließlich geht es um keine Mär, sonder ein Märchen, also etwas Kleines. Das Märchen ist ziemlich schnörkellos, der Roman komplex. Fiktion sind beide, allerdings bezieht sich der Roman auf eine Realität, selbst wenn sie erfunden ist, während das Märchen praktisch auf die Wirklichkeit verzichtet.

Riesig mag uns auch der Unterschied erscheinen, wenn wir Dornröschen und Co. vergleichen mit dem jeweiligen Œuvre von Lenz, Grass, Böll, Walser, Frisch und vielen, vielen anderen. Aber wir sind nicht mehr so sicher, wenn wir an die Autoren Dan Brown, Joanne K. Rowling, Ken Follet oder Stephen King denken. Und was ist mit Ian Fleming oder Frank Schätzing? Dass alle – und viele mehr – Romane schreiben, ist unbestritten. Und mancher ist sicher auch märchenhaft. Da trifft die Hypothese schon eher zu.

Nun gut, mag man einwenden, beim Roman oder insgesamt in der Belletristik ist eine Nähe zum Märchen ausgeprägter als vom Sachbuch aus. Der Begriff „Belletristik“ leitet sich schließlich von „belles-lettres“ ab – die „schöne Literatur“ – und ursprünglich waren das die „schönen Briefe“, aus denen bei Hofe vorgelesen wurde. Diese von Höflingen vorgetragenen Auszüge aus Briefen regten die Phantasie an und waren märchenhaft. Aber Sachbücher sind ein völlig anderes Genre. Da steht ein bestimmtes Sachthema im Mittelpunkt: beispielsweise Essen und Trinken, Natur und Garten, Freizeit, Hobby, Geschichte, Religion, Informatik oder Technik. Politik und Geschichte werden ebenso gern in Sachbüchern für ein Laienpublikum veröffentlicht wie Biographien oder Themen aus der Wirtschaft. Da steht der Sachbezug im Vordergrund und nicht das Märchenhafte.

Beim Fachbuch ist dieser Bezug noch ausgeprägter. Es wendet sich an Leser, die noch mehr spezielles Vorwissen mitbringen, z.B. Auszubildende, Studenten, Wissenschaftler, Fachleute. Da verschwindet jeder Bezug in Richtung Fabel oder Fiktion. Sach- oder Fachbuch zeichnen sich eher durch einen trockenen Stil aus, einen Stil, der uns nicht emotional mitnimmt. Beim Sachbuch – und erst recht beim Fachbuch – ist beim Lesen der Verstand gefragt. Ein Fiebern auf den Fortgang der Handlung gibt es nicht. Die Verfasser von Fach- und Sachbüchern zählen nicht zu den Märchenerzählern!

Wirklich? Sollten wir bei dieser Gattung der Literatur nicht kritischer sein? Wie ist es zum Beispiel, wenn Politiker oder andere wichtigen Zeugen der Zeitgeschichte Biographien schreiben oder Stellung nehmen zu politischen oder historischen Ereignissen. Fließt nicht immer in die Texte die eigene Wertung mit ein, die bekannte politische oder die unbekannte persönliche Meinung, die Ideologie, das Gesellschaftsverständnis? Waren Helmut Kohl, Friedrich von Weizsäcker, Dietrich Genscher, Helmut Schmidt, Willy Brandt, Konrad Adenauer oder Otto von Bismarck in ihrer Sichtweise auf ihr Leben und ihre Politik nicht immer gefangen von sehr subjektiven Eindrücken. Es ist ja gerade dieses subjektive Element, die diese Literatur interessant und spannend macht. Von den Zeitläuften hat fast jeder Leser ein bestimmtes Bild, aber der Vergleich mit der Sicht eines bekannten Politikers ist deshalb spannend, weil man vor der Frage steht, eventuell sein eigenes Bild ändern zu müssen.

Damit entsteht aber wieder wie im Märchen die Frage: Glaube ich das Gesagte oder nicht? Im Falle des Märchens ist diese Frage einfach zu beantworten, aber wie reagiere ich bei Kohl, Genscher oder Brandt?

Nun anzunehmen, dass wenigstens die Verfasser von Kochbüchern oder Reiseführern nicht zu den Märchenerzählern gehören, ist auch vorschnell. Man braucht nur das Rezept eines Kochbuchs bei Google einzugeben, um festzustellen, wie viel unterschiedliche Varianten möglich sind. Die Rezepte jedes Kochbuchs sind eine subjektiv gefärbte Auswahl und bei ihrer Umsetzung in die Realität wird mancher Hobbykoch feststellen, dass sie von ihr genauso fern sind wie die Märchen.

Bei Reiseführern zeigt sich die Phantasie nicht nur bei empfohlenen Restaurants sondern auch bei der Auswahl der besonderen Sehenswürdigkeiten: Bei der riesigen Biberburg im Yellowstone-Park sammelten sich nur die Leser eines deutschen Reiseführers. Die Burg und der gestaute See waren inzwischen vom Wald überwuchert und die Reste der Biberarchitektur nur mit detektivischem Gespür zu erkennen. Alle anderen Reiseführer hatte diese Sehenswürdigkeit bereits getilgt. Nur der Verfasser des deutschen war vermutlich lange nicht mehr an diesem verwunschenen Ort gewesen. Gut, dass nicht nur der Text, sondern auch die Landschaft märchenhaft waren.

Selbst physikalische Forschungsergebnisse führen uns manchmal in eine Märchenwelt: Zu Beginn des Jahres 2014 zeichneten Forscher mit einem Teleskop am Südpol offenbar Signale von der Geburt des Universums auf, die kühnste Vermutungen bestätigten. Im Herbst des Jahres schrumpfte die Sensation auf die Größe von Staubkörnern auf der Messapparatur, die die Messungen verfälscht hatten.

Die Märchenerzähler gibt es also überall. Auch der Sach- und Fachbuchbereich ist nicht ausgespart. Wenn das Märchenhafte nicht Ziel, sondern Nebenprodukt ist, kann man natürlich Indizien heranziehen, die das Gesagte untermauern, also die Glaubwürdigkeit erhöhen und das Spekulative und Märchenhafte verringern. Allerdings sollte sicher sein, dass die Indizien nicht Teil fantastischer Geschichten sind. Im Fachbuch werden beispielsweise Fußnoten und Verweise benutzt, um Glaubwürdigkeits- und Wissenschaftsstandards zu genügen. Das Lesen wird allerdings dadurch komplizierter: Man hat mehrere Texte gleichzeitig zu verfolgen, den Haupttext und die Texte der Fußnoten und Verweise. Die märchenhafte Form – also das Erzählende, Malerische, Bezaubernde – geht so mit Sicherheit verloren, der fiktive Inhalt nicht immer.

Weshalb in der Literatur immer wieder Texte ins Märchenhafte abgleiten, hat mit der menschlichen Unwissenheit zu tun. Wir alle sind unfertig, haben nur lückenhaftes Wissen und deshalb einen sehr begrenzten Horizont. Es gibt zwar kluge und weniger kluge Menschen, aber selbst das Wissen der klügeren ist minimal im Verhältnis zu dem Kosmos, den wir wissen könnten. Deshalb unterliegen selbst die klügsten kardinalen Irrtümern, so dass ihre geschriebenen Texte oft auf sehr sonderbare Geschehnisse hinweisen. Bei großen Namen zweifeln wir dann an uns selbst, zumindest wundern wir uns. Der kindliche Realitätstest unterbleibt natürlich.

Wir sollten unser eigenes Unwissen mehr berücksichtigen. Platon kann da Vorbild sein. Er griff auf das Stilmittel des Dialogs zurück, der jetzt als Platonischer Dialog bezeichnet wird. In fast allen seinen Werken verwendet er diese Methode. Mehrere Dialogpartner diskutieren bestimmte Themen. Weil unterschiedliche Sichtweisen zu Wort kommen können, hat der Leser die Möglichkeit, verschiedene Argumentationsketten zu überprüfen und so eher zu einem abgewogenen Urteil zu kommen. Ein Abwägen des Für-und-Widers kann zwar auch in einem erzählenden Text vorgenommen werden, aber schnell kann beim Leser der Eindruck entstehen, er solle von einer Idee vereinnahmt werden. Auch beim Platonischen Dialog bleibt der Autor immer „der schöpferische Geist“, „der Gott des Textes“, doch seine persönliche Auffassung lässt sich nur indirekt entnehmen. Und wenn er sich selbst nicht sicher ist, kann er diese Unsicherheit sogar in den Text einfließen lassen: Bei Plato wird nicht immer klar, was wirklich seine eigene Auffassung ist.

Das Stilmittel „Platonischer Dialog“ kann die Glaubwürdigkeit des Textes erhöhen, erleichtert das Mitdenken und verhindert das Gefühl des Lesers, beschwatzt zu werden. Aber dieses Mittel verlangt auch das Mitdenken. Aber es gibt viele Situationen im Leben, wo man darauf gern verzichtet.

Märchen haben Konjunktur. Es werden sehr viele erzählt. Aber zu wenig echte.

 
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